Vom Himmel hoch, da komm ich her
Zur Kulturgeschichte des Weihnachtsliedes
Monika Willer
Zusammenfassung (generiert mit Lama3.2)
Weihnachtslieder sind nicht nur eine musikalische Tradition. Sie nähren den Glauben und vermitteln die Geschichte des Weihemahlens mit einfachen Bildern. So entstehen in der Weihnachtspyramide auch diese Lieder für Kinder. Immer wieder wird das Weihemahlenskind vorstellig dargestellt: die Wölfe werden nicht nur als Raubtiere, sondern auch als Zaunbauer mit dem Stab im Munde gezeigt. So wird den Kindern bewusst, dass Jesus Christus der Erlöser der Welt ist.
Es gibt nur wenige Kulturereignisse, die eine ähnlich lange und ungebrochene Wirkungsgeschichte schreiben wie das Weihnachtslied. Das älteste Weihnachtslied der Welt ist der Hymnus "Veni redemptor gentium", welcher auf Ambrosius von Mailand (339–397) zurückgeht, der auch das Weihnachtsfest selbst etabliert hat. Dieser Hymnus wird auf Latein oder in der Luther-Übersetzung als "Nun komm, der Heiden Heiland" bis heute gesungen.
Noch viel seltener ist es jedoch, dass ein kulturelles Produkt über anderthalb Jahrtausende einen so hohe Identifikationsgrad aufweist. Angesichts dieser Qualitäten ist es erstaunlich, wie selbstverständlich und unhinterfragt Weihnachtslieder behandelt werden. Dabei zeigt die Recherche, dass darin spannende soziokulturelle Informationen weiterleben -die heute teils einer Entschlüsselung bedürfen. Dazu will der vorliegende Text beitragen. Die Erkenntnisse resultieren aus einem crossmedialen journalistischen Projekt der Autorin. Zehn Jahre lang hat sie an jedem Adventstag in der Westfalenpost ein Weihnachtslied digital und im Print vorgestellt und seine Entstehung sowie Besonderheiten erläutert. Aus der Fülle des so recherchierten Materials ist ein Vortrag entstanden und als Essenz dieser Beitrag. Der Artikel beschränkt sich auf die Protagonisten des Weihnachtsliedes. Weitere Themen wie der Zusammenhang zwischen Weihnachts- und Wallfahrtslied, der Einfluss der Reformpädagogik auf das bürgerliche Weihnachtslied des 19. Jahrhunderts und die überwältigende Internationalität der beliebtesten klassischen Weihnachtslieder erfordern eine gesonderte Betrachtung.
Die Protagonisten
Alle Protagonisten an der Krippe haben ihre eigenen Lieder: Engel, Hirten, und die Heilige Familie. Spannenderweise spiegeln diese Lieder die Lebensrealität der Protagonisten bzw. übersetzen im Falle der Engel ein außerordentlich komplexes theologisches Konzept in Musik.
Weihnachtliche Hirtenlieder
Die Gruppe der Hirtenlieder greift über die Jahrhunderte hinweg Aspekte der Musik der Hirten auf, die traditionell eher instrumental geprägt ist als vokal. Die Hirten sind kulturell die ersten Musiker, sie haben spezifische Musikinstrumente erfunden wie die Syrinx, die Hirtenflöte aus Rohrpfeifen, und die Schalmei. Das bis heute prägende Hirteninstrument ist die Schäferpfeife als frühe Form des Dudelsackes. Typische Hirtenmelodien sind eher bewegt als getragen, sie bestehen aus fröhlichen schnellen Läufen, und genau damit illustrieren sie den Lauf der Hirten nach Bethlehem.
Bei "Kommet ihr Hirten" ist der Bezug deutlich. Es handelt sich um eine Bordun-Melodie. Das heißt, ein tiefer Halteton klingt einkomponiert mit. Mit solchen Haltetönen imitiert "Kommet ihr Hirten" die Schäferpfeife, denn der Dudelsack verfügt über eine oder mehrere Bordunpfeifen, welche die jeweilige Melodie begleiten.
aus "Sursum Corda! (...), Paderborn 1875 (Stadtarchiv Hallenberg) Foto: Georg Glade
Das in Deutschland weniger bekannte "O laufet ihr Hirten" hat ebenfalls einen einkomponierten Bordunbass und spricht die musikalischen Qualitäten der Hirten direkt an. "O laufet, ihr Hirten, lauft alle zugleich / und nehmet Schalmeien und Pfeifen mit euch! / Lauft alle zumal mit freudigem Schall nach Bethlehem zum Kripplein, zum Kripplein im Stall!" In den Hirtenliedern sind besonders viele regionale Musikidiome überliefert. In Italien spielen die Pifferari eine große Rolle, Hirten, die früher aus den Bergen nach Rom kamen, um mit Schalmei, Dudelsack und Gesang vor Marienbildern zu musizieren.
Hirte ist der älteste Beruf der Menschheit; und ausgerechnet die armen Hirten sind auserwählt, die Verkündigung des Engels zu hören. Anders als die drei Weisen können sie das Kind nicht mit Gold, Weihrauch und Myrrhe beschenken, sie nehmen stattdessen das Kostbarste mit nach Bethlehem, was sie haben: ihre Musik. Es überrascht nicht, dass es Weihnachtslieder gibt, die das Thema Hirte/Herde im übertragenen Sinne behandeln und auf die christliche Gemeinde übersetzen. Vor allem US-amerikanische Gospelsongs thematisieren diesen Zusammenhang.
Weihnachtliche Wiegenlieder
Die zweite große Gruppe der Weihnachtslieder beschäftigt sich mit den Eltern. Deren Situation kann in ihrer identitätsstiftenden Wirkung gar nicht überschätzt werden. Alle Väter und Mütter können sich vorstellen, wie es ist, unter derart prekären Bedingungen ein Kind zu gebären. Tatsächlich erleben bis heute viele Eltern ähnliche Situationen der Heimatlosigkeit, der wirtschaftlichen Not und der Angst vor Verfolgung. Alle diese Eltern stehen vor einem Problem, das schon Maria und Josef bewältigen mussten: Was tun, wenn das Kind nicht schläft? Man singt ihm ein Wiegenlied. Die weihnachtlichen Wiegenlieder bilden die größte Gruppe von Weihnachtsliedern überhaupt.
Eia, eia, susani
Das Wiegen von Kindern gilt als eine wichtige Grundlage für den Spracherwerb. Fast alle Kulturen weltweit pflegen bestimmte Rituale, um Babys zu beruhigen. Diese bestehen aus einer Kombination von wiegenden Bewegungen mit beruhigenden Lauten. Die beruhigenden Laute wachsen sich vielfach zum Wiegenlied aus. Aus der Wiegebewegung ist musikalisch der Sechsachtel- und Dreiviertel-Rhythmus hervorgegangen. Und die Laute, das Lullen (Lullaby), haben sich im Weihnachtslied erhalten.
Als Beispiel dafür lässt sich Friedrich Spees "Vom Himmel hoch, o Engel, kommt" zitieren. Das Lied wurde 1623 erstmals veröffentlicht. Darin finden sich die Interjektionen "eia" und "susani". Beide Floskeln beziehen sich auf das Wiegen von Babys. Das Wort "susani" ist aus zwei mittelhochdeutschen Vokabeln zusammengezogen. Aus "Ninne", das für Wiege steht, man vergleiche auch das italienische Lied "Ninna nanna di Gesù Bambino". Und aus "susen": Das ist ein Schallwort, damit ist ein rauschendes Geräusch gemeint, wie es eine Holzwiege macht, wenn man sie schaukelt. Sause, liebe Ninne würde also heißen: Bewege dich, liebe Wiege. Zusammengezogen ergibt das Susaninne, und dieses Wort war im Mittelalter das Synonym für Wiegenlied.
"Eia" hingegen ist eine Floskel, die heute noch im Zusammenhang mit Babys verwendet wird. Wir sagen zum Beispiel: "Ei, ei, was bist du groß geworden!" oder "Ei, was für ein schöner Teddy". Das Kinderlied "Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh" hat nichts mit dem Mädchennamen Susanne zu tun, sondern steht für "susen", markiert das Lied also als Wiegenlied. Ebenso
Stukenbrock, St. Johannes Baptist – Julius Mormann – musizierende Engel Foto: Rolf-Jürgen Spieker
Dortmund, St. Antonius – Heinrich Hartmann – Hirte mit Sackpfeife Foto: Rolf-Jürgen Spieker
ist "Eia popeia" ein Wiegenlied. Und alle Weihnachtslieder, in denen Eia/Eja oder susani vorkommen, sind alte Wiegenlieder.
Neben dieser Überlieferung von Wiegeritualen geben weihnachtliche Wiegenlieder auch Auskunft über soziale Verhältnisse. In dem Lied "Auf dem Berge, da wehet der Wind" heißt es "Da wieget Maria ihr Kind, sie wiegt es mit ihrer schneeweißen Hand, sie hat dazu kein Wiegenband." Damit beschreibt das Lied die Vorstellung von einer Maria, die sogar so arm ist, dass sie sich kein Band leisten kann, mit dem man eine Wiege hin und her zieht. Die Wiege nur mit der Hand zu schaukeln, ist außerordentlich ermüdend und schmerzhaft. Maria bittet in dem Lied Josef um Hilfe. Doch der ist von der harten Arbeit als Handwerker bereits verschlissen; er hat Arthritis: "Wie soll ich dir denn dein Kindlein wiegen? Ich kann ja kaum selber die Finger biegen."
Trost und Geborgenheit
Mit ihrem wiegenden Dreierrhythmus geht von weihnachtlichen Wiegenliedern sehr viel Trost aus. Die schwierige äußere Situation in Stall bzw. Grotte wird aufgefangen in der innigen Liebe, mit der sich die Eltern um ihr Kind kümmern. Dieser Trostaspekt ist vermutlich ein Grund dafür, dass die heute noch beliebtesten klassischen Weihnachtslieder in schwierigen Zeiten entstanden sind, als die jeweiligen Gesellschaften von Gewalt, Kriegen, Seuchen, Hunger und Verrohung erschüttert waren. Mitten im 30-jährigen Krieg schreibt Friedrich Spee sein "Zu Betlehem geboren", und er dichtet und komponiert damit gegen unvorstellbare Kriegsgreuel an, gegen die Pest, gegen Missernten und gegen die lodernden Scheiterhaufen der Hexenverbrennung. "Zu Bethlehem geboren" ist ein Wiegenlied für die geplagten Menschen, und es verkündet ganz schlicht die Botschaft, dass man der Gewalt nicht ohnmächtig ausgeliefert ist, solange man noch die Fähigkeit besitzt, zu lieben. Friedrich Spee befand sich selbst in einer schwierigen persönlichen Situation, als er das Lied verfasste. Wegen seiner
Oedingen, St. Burchard – Julius Mormann – Engel mit Querflöte Foto: Rolf-Jürgen Spieker
Kritik an den Hexenverbrennungen wurde der Jesuitenpater von seiner Professorenstelle in Paderborn nach Trier strafversetzt. Dort pflegte er kranke Soldaten und steckte sich dabei mit der Pest an.
Das Lied der Lieder
Auch "Stille Nacht", Weltkulturerbe und bekanntestes Weihnachtslied überhaupt, wurde aus der Not heraus geschrieben. Die Orgel der Kirche St. Nikola in Oberndorf bei Salzburg war kaputt, deshalb stellten der Hilfspfarrer Joseph Mohr (Text) und der Schulmeister Franz Xaver Gruber (Melodie) am Heiligabend 1818 ihr neues Lied mit Gitarrenbegleitung vor. Die Region um Salzburg litt damals unter den Folgen der Napoleonischen Kriege. Dazu kamen die Folgen eines katastrophalen Vulkanausbruchs in Indonesien. Der Vulkan Tambora brach im April 1815 mit einer Intensität aus, die zu globalen Klimaveränderungen führte. Im Jahr 1816 gab es sogar im fernen Europa deswegen keinen Sommer; in den höheren Lagen schneite es das ganze Jahr hindurch. Es gab keine Ernte und regional unterschiedlich schlimm ausgeprägte Hungersnöte.
Wie sehr "Stille Nacht" ein Bedürfnis traf, zeigt sich an seinem raschen internationalen Siegeszug. Wandernde Sängerfamilien brachten das Lied schnell in die USA; die englische Version wurde ebenso populär wie das deutsche Original. Heute ist das Lied in über 300 Sprachen und Dialekte übersetzt und ist für viele Menschen immer noch das Sinnbild für Weihnachten schlechthin. Es gibt kein anderes Lied, das so viele Emotionen auslöst.
Das Geheimnis von "Stille Nacht" ist aber, dass es sich um ein Wiegenlied handelt. Mit dieser kulturellen Aufladung bildet es die Vorlage für die Gefühlswelten in vielen säkularen und kommerziellen Weihnachtsliedern von "Dreaming of a White Christmas" von Irving Berlin aus dem Jahr 1942 bis zu dem traurigen "Fairy
Dortmund-Aplerbeck, St. Ewaldi – Geschwister Heinz-Theo u. Anneliese Degen – Hirte mit Schalmei Foto: Rolf-Jürgen Spieker
Text und Noten aus: "Weihnachtsalbum", Tongers Taschen-Musik-Album Nr. 25, Verlag P.J. Tonger, Köln o.J. (vor 1941) (Pfarrarchiv Hallenberg) Foto: Georg Glade
Tale of New York" von der irischen Punkband "The Pogues" von 1988. Beide Stücke, so unterschiedlich sie sind, beschreiben eine Weihnachtssehnsucht, die nicht mehr zu erfüllen ist. "White Christmas" beschwört die heile Welt einer Kinderweihnacht, die der Ich-Erzähler aus ungenannten Gründen verloren hat. Und "Fairy Tale of New York" handelt von gescheiterten Immigranten, das Paar des Liedes ist durch Drogen und Alkohol zerrüttet. Und doch schwebt über ihnen der Wunsch nach "Stille Nacht", die Hoffnung auf ein Wiegenlied, bei dem sie sich ausruhen können von ihrer Sucht und ihrem Streit.
Engelslieder
Den Engeln ist die dritte große Gruppe von Weihnachtsliedern gewidmet. Diese müssen musikalisch mit einem theologischen Geheimnis umgehen.
Seit der Antike gibt es das Konzept der Sphärenharmonie. Die antike Sphärenharmonie geht davon aus, dass die Himmelskörper auf ihren Bahnen musikalische Harmonien abbilden, und diese halten Sterne und Planeten auf ihren Positionen. In der christlichen Vorstellungswelt funktioniert der Himmel so, dass die himmlischen Heerscharen unentwegt das Lob des Schöpfers singen und damit das Universum zusammenhalten. Nur wissen die Menschen auf der Erde nicht, wie die Himmelsmusik klingt, sie können sie ja nicht hören.
Weihnachten bricht die Trennung von Himmel und Erde auf. Der Himmel öffnet sich und schickt den Verkündigungsengel mit seinem Gloria. Mit dem Gloria kommt die Himmelsmusik auf die Erde. Daher heißt der Gloria-Hymnus auch Hymnus angelicus. Im 4. Jahrhundert ist erstmals eine Verwendung des Glorias im liturgischen Zusammenhang belegt. Aber wegen der besonderen Bedeutung legt die Kirche ein Tabu darauf. Zuerst darf nur der Papst das Gloria singen; selbst Priester dürfen es nur zu Ostern oder an ihrem Weihetag anstimmen. Es dauert bis zum 12. Jahrhundert, bis erstmals in der Westkirche ein von der Gemeinde gesungenes Gloria belegt ist.
Das Weihnachtslied macht das Gloria der Engel nun allen Menschen zugänglich. Und die Komponisten überbieten sich, dieses Gloria besonders würdig auszugestalten. Das beliebte französische Weihnachtslied "Les Anges dans nos campagnes" ist in deutscher Sprache in mehreren Übersetzungen präsent, etwa "Engel auf den Feldern singen" (Gotteslob) und "Hört der Engel helle Lieder" (Evangelisches Gesangbuch). Darin wird das Gloria als Melisma vertont. Das heißt, der Vokal "o" wird mit mehreren Noten ausgeschmückt. Das "o" in Gloria umfasst nicht weniger als 18 Töne. Das ist die äußerste Grenze dessen, was Laiensänger singen können, ohne Luft zu holen.
Der Weg ins Kinderzimmer
Martin Luther schafft es 1535, die Geschichte des Engels aus der Ich-Perspektive zu erzählen: "Vom Himmel hoch, da komm ich her". Luther schreibt dieses Lied für die Weihnachtsbescherung seiner Kinder. Damit begründet er die pädagogische Tradition des häuslichen Weihnachtsliedes, das nicht mehr für den Einsatz in der Kirche gedacht ist, sondern die biblische Botschaft mit einfachen Bildern verständlich machen will.
Alle Krippenbeispiele stammen aus Künstlerkrippen. Angegeben ist jeweils der Standort des Kunstwerks – Künstler – dargestelltes Motiv; Fotos (4): Rolf-Jürgen Spieker
Die Redaktion wünscht allen Leserinnen und Lesern frohe Weihnachten und alles Gute für das Jahr 2025